Wie soll man die Verdienste eines Menschen beurteilen, der sich selbst überaus bescheiden „Optiker“ nennt und doch so viel mehr ist? Der wissenschaftlich gebildet ist und dennoch wenig Aufzeichnungen hinterlässt? Der über 26 Jahre in einer mittelsächsischen Kleinstadt eine „Optische Werkstatt“ betreibt und doch nicht zu den Mittweidaer Honoratioren gehört, jenen Bürgern, die aufgrund ihrer Verdienste einen herausgehobenen sozialen Status zugesprochen bekommen? Der von den bedeutendsten Unternehmen auf seinem Gebiet umworben wird und dennoch freiwillig allein bleibt? Dessen wichtigstes Werkzeug seine nach einem Sprengstoffunfall verbliebene Hand und nicht die Technik ist?
All dies war Bernhard Schmidt, der von 1901 bis 1904 Maschinen- und Elektroingenieurwesen am Technikum Mittweida studiert. Schon vor seinem Abschluss eröffnet er in Mittweida seine eigene Werkstatt und schleift Spiegel und Linsen mit höchster Präzision. 1904 beantragt er eine Gewerbeerlaubnis für die „Optische Werkstatt B. Schmidt". Sie ist zwar nicht viel mehr als eine alte Bretterbude in der Nähe des Restaurants „Lindengarten", aber darauf kommt es nicht an.
Ein-Mann-Betrieb im Wettstreit mit Zeiss und Steinheil
Tatsächlich ist „Linsen-Schmidt“, wie er in Mittweida genannt wird, ein Geheimtipp im Feld der Astro-Optik. Das wichtigste Betriebskapital ist er selbst – und seine Fertigkeiten sprechen sich schnell herum. Er ist ein Meister aus der Provinz, ein genialer Einzelgänger, fernab von Zeiss in Jena und Steinheil in München, und trotzdem mit ihnen konkurrierend.
„Der ehrerbietigst Unterzeichnete bittet Ew. Exzellenz die Korrektur Herrn Schmidt zu übertragen“, schreibt etwa Karl Schwarzschild, Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, dem größten im Deutschland, im Jahre 1913 an den preußischen Unterrichtsminister: „Der Unterzeichnete hat die Überzeugung, dass Herr Schmidt die Korrektur des Objektivs besser und rascher ausführen wird als die Firma Steinheil. Herr Schmidt ist der größere Künstler und da es sich darum handelt, das größte deutsche Objektiv möglichst zu vervollkommnen, so glaubt der Unterzeichnete, dass dem gegenüber alle anderen Rücksichten zurückstehen müssen.“
Schmidt macht das, was die Alumni der HSMW bis heute kennzeichnet: Die persönliche Leidenschaft mit dem in Mittweida erworbenen Wissen erfolgreich zu vereinen und auch nach dem Abschluss an der Alma Mater zu verfeinern.
Schmidt gehörte zu jenen Studenten, die aus dem Ausland nach Mittweida gekommen waren. Am 30. März 1879 auf der damals russischen und heute zu Estland gehörenden Insel Naissaar (deutsch Nargen) geboren, ging er schon Mitte der 1890er Jahre seinen astronomischen und optischen Neigungen nach. Weil er 1894 bei einem Unfall mit einer selbstgebastelten Bombe in Form eines mit Schießpulver gefüllten Metallrohres seinen rechten Unterarm verlor, musste Schmidt die Einschränkung mit Fleiß, Flexibilität und Improvisation ausgleichen. Schmidt erkannte Probleme und löste sie so, wie er es in der Realität für sinnvoll hielt, er setzte das um, was funktionierte – nicht das, was in der Theorie das Beste sein müsste. Bereits 1901 wurde er in der „Astronomischen Rundschau“ als einer der Entdecker der berühmten Nova Persei im Sternbild Perseus bezeichnet. Am 23. Oktober 1901 schrieb er sich schließlich am Technikum Mittweida ein.
Der Schmidtspiegel verändert die Astronomie
Seine Leidenschaft für die Astro-Optik setzt Schmidt nach dem Studium fort. In der Nähe seiner Werkstatt baut er sich ein Observatorium, die brillanten fotografischen Aufnahmen versendet er an Fachzeitschriften. Nach 1926 wird Schmidt freier Mitarbeiter an der Sternwarte in Hamburg-Bergedorf und baut dort 1930 das erste nach ihm benannte neuartige Spiegelteleskop. Seine Erfindung ermöglicht es, komafreie Spiegelteleskope großen Durchmessers zu bauen und damit brillante weitwinklige Astrofotos aufzunehmen. Er verwendet dafür eine Kombination aus sphärischem Spiegel und einer dünnen Korrekturplatte. Zur Herstellung dieser Korrekturplatte dient sein eigens dafür entwickeltes Fertigungsverfahren.
Schmidts Erfindung wird die Wissenschaft verändern. Sie wird ermöglichen, den Himmel systematisch ‚abzutasten‘. Ironischerweise wird die bis in die Ränder der weitwinkligen Aufnahmen scharfe Abbildung der Galaxien so detailreich und informationsgeladen ausfallen, dass sie die Wissenschaftler dazu zwingt, Schmidts bis heute unerreichte Technik auszumustern. Die Informationsfülle einer Aufzeichnung mit dem Schmidtspiegels wird menschlich nicht auszuwerten sein, sie benötigt den Einsatz von Computern – was mit Schmidts Speichermedium, der Fotoplatte, unmöglich wird.
Die Leistungen des Astro-Optikers Bernhard Schmidt werden insofern unvergessen bleiben, weil seine Erfindung zu zahlreichen Weiterentwicklungen führt, die das Bildfeld ebnen, den Aufbau vereinfachen und den Bildwinkel vergrößern. Am bekanntesten ist die Kombination des Schmidt-Korrektors mit einer Cassegrain-Spiegelanordnung.
Heute gibt es weltweit über 170 Teleskope für die astronomische Forschung. Die größten Schmidt-Teleskope sind gegenwärtig das Alfred-Jensch-Teleskop der Thüringer Landessternwarte in Tautenburg bei Jena mit einem Spiegeldurchmesser von 2,00 m, einer Brennweite von 4,00 m und einer freien Öffnung von 1,34 m, das Oschin-Schmidt-Teleskop des Palomar-Observatoriums von 1948, der Big-Schmidt mit dem Spiegeldurchmesser von 1,83 m, einer Brennweite von 3,07 m und einer freien Öffnung von 1,26 m sowie das UK Schmidt-Teleskop des Anglo-Australian Observatory / Siding-Spring-Observatorium in Australien mit dem Spiegeldurchmesser von 1,83 m, einer Brennweite von 3,07 m und einer freien Öffnung von 1,24 m. Selbst die am 6. März 2009 gestartet Raumsonde „Kepler“ besitzt eine Schmidt-Optik mit einem Spiegeldurchmesser von 1,40 m.
„Der beste Spiegel- und Linsenschleifer der Welt“
„Der Optiker Bernhard Schmidt hat keine eingetragene Firma. Er ist selbstständiger Astro-Optiker, der beste Spiegel- und Linsenschleifer der Welt“, schreibt Professor Richard Schorr, Direktor der Sternwarte in Hamburg-Bergedorf und Mitbegründer der Universität Hamburg im Jahr 1933.
So furios Schmidts technisches Vermächtnis bis ins 21. Jahrhundert wirkt, so mysteriös erscheint der Privatmann. Freundlich ausgedrückt ist er Eigenbrötler. Er schlug ein lukratives Angebot von Zeiss aus, war lieber sein eigener Herr, eine Stelle als Staatsbeamter in der Bergedorfer Sternwarte kam für ihn nicht infrage. Überliefert ist, dass Schmidt arbeitet, wann es ihm passte. Auf eine Woche voller Arbeit – auch in der Nacht, folgten manchmal zwei Wochen Müßiggang. Diese Arbeitsweise verhinderte angeblich einen Ruf zur Konstruktion des 200-Zoll-Spiegeln für das Mount-Wilson-Observatorium in den USA, dem Ort wo unter anderem Edwin Hubble wirkte.
Technisch genial, menschlich zurückhaltend
Als „absonderlichen, wortkargen, verschlossenen Menschen“ habe sie Schmidt zwischen 1908 und 1910 bei einem Konzert kennengerlernt, berichtet später seine langjährige Mittweidaer Bekannte, Elfriede Groh. Erst, wenn er Vertrauen gewonnen hat, öffnet sich Schmidt.
In das starre Korsett gesellschaftlicher Konventionen passt der Erfinder nie. Zeit seines Lebens bleibt er ledig. In Hamburg werden seine teils dreitätigen „Bierreisen“ angesichts seiner herausragenden Fähigkeiten gerade noch toleriert. Unglücklicherweise muss er auch auf dem Weg zu seiner Mittweidaer Werkstatt durch das Restaurant „Lindengarten“ gehen, nicht ohne hier ein oder zwei Gläschen zu trinken.
Der Tod Bernhard Schmidts ist mysteriös. Nach einer Holland-Reise zur Akquisition eines neuen Auftrags klagt er über Kopfschmerzen, redet angeblich wirr. Schreiend und gestikulierend sei er vor dem Haus aufgefallen, in dem er in Bergedorf ein möbliertes Zimmer bewohnte. Am 1. Dezember 1935 stirbt Schmidt. Als unmittelbare Todesursache wird Herzschwäche und eine Lungenentzündung angeführt. Den plötzlichen „Wahnsinn“ dagegen können die Ärzte nicht erklären.
Was bleiben wird, ist Schmidts technisches Vermächtnis. Sein Wirken entzieht sich weitgehend der allgemeinen Vorstellung vom Ingenieur, genauso wie der des tüchtigen Handwerkers. Die Ingenieurhochschule Mittweida wird schon im Jahr 1985 in einem Ehrenkolloquium zum 50. Todestag, verbunden mit der Herausgabe einer Bernhardt-Schmidt-Medaille und einem Sonderstempel der Deutschen Post, und später mit der Benennung des Senatssaales in Bernhardt-Schmidt-Saal ihren bedeutenden Alumni würdigen.
Weiterführende Literatur zum Artikel:
- Vorträge zum Ehrenkolloquium anlässlich des 50. Todestages von Bernhard Schmidt (1985)
- Ingenieurhochschule Mittweida, Hrsg. Der Rektor, Wiss. Arbeiten Sonderheft
- Den Himmel fest im Blick, Eine wissenschaftliche Biografie über den Astro-Optiker Bernhard Schmidt (2002). Barbara Dufner. Franz Steiner Verlag, Stuttgart
- Treffpunkt (2004) Das Blatt zum Absolvententreffen…, Hrsg. Förderkreis Hochschule Mittweida
Unsere Kalenderblätter blicken auf die Geschichte der Hochschule Mittweida. Anhand aktueller Anlässe zeichnen wir bedeutende Meilensteine der Hochschulgeschichte nach.
- Erich Schleichers Idee der praktischen Elektronik-Technologie
- Bernhardt Schmidt, der weltberühmte Astro-Optiker aus Mittweida