Diese Frage ist einerseits die naheliegenste, gleichzeitig aber auch die schwierigste. Eigentlich wissen wir es nicht – aber wir ahnen es. Wie immer, wenn wir über Großes wie etwa Klimawandel, Religion oder Migration nachdenken, erscheint die Distanz zwischen mess- und sichtbaren Details und deren Wirkung auf das Ganze schier unüberbrückbar.
Dazu trägt auch die Zeitskala bei. Was kann mich motivieren, mein aktuelles Handeln zu ändern, wenn sich die Wirkung erst in fünf oder zehn Generationen entfaltet oder erfahrbar wird? Unsere Rationalität stößt hier an Grenzen, was wiederum Tür und Tor für allerhand Meinungen öffnet, die meist gut argumentiert scheinen und in alle möglichen Richtungen führen. Es ist leicht geworden, sich ein Weltbild zusammenzuklicken.
Wie also soll ich – und Sie – im Lichte dessen handeln?
Schon im Jahr 1973 veröffentlichte der Mathematiker Colin Clark eine Berechnung zur Wirtschaftlichkeit des Tierschutzes. Ihn bewegte die Frage, ob es wirtschaftlich ist, die Japaner vom Blauwal-Fang abzuhalten, damit sich die Population erholen und damit zu einer langfristig nutzbaren Ressource werden kann. Seine Berechnungen zeigten, dass es wirtschaftlicher wäre, sofort alle Blauwale zu jagen und die erzielten Gewinne in Wachstumsmärkte zu investieren. Hierbei wird ein Kernproblem deutlich: Wir versuchen allem einen Wert beizumessen – Aktienwert, Freizeitwert, Erholungswert, lebenswert. Das kann man machen – aber es ergibt keinen Sinn.
Warum Natur keinen Wert hat
Natur hat keinen Wert, sie ist. Und sie ist viel, nicht zuletzt unsere Lebensgrundlage. Und die Diversität in der Natur? Wie viele Schuhe haben Sie? Wann tragen Sie welche Schuhe? Einige Schuhpaare haben spezielle Funktionen, andere trotz gleicher Funktion ein anderes Design. Aber alle sind Schuhe. So verhält es sich auch mit Arten von Lebewesen. Sie alle haben eine Funktion in der Biosphäre. Entsprechend spricht man von Ökosystemfunktionen und -leistungen. Auch hier schwingt eine Bewertung mit.
Wenn wir davon sprechen, dass etwa 70 Prozent der für unsere Ernährung wichtigen Pflanzen auf die Bestäubung durch Insekten – nicht nur Bienen – angewiesen sind, dann ist unterschwellig von Gewinneinbußen die Rede, wenn durch ausbleibende Bestäubung aus den Blüten keine Früchte erwachsen.
Ich möchte mich aber nicht in einer Kapitalismuskritik verlieren – dafür ist die Bedeutung der Biodiversität viel zu groß. Ich möchte vielmehr zur gängigen Diskussion ergänzen, dass die Natur und auch das Klima einfach schön sind. Beautiful. Reich an Schönheit. Das zu erfahren und zu spüren, ist essentiell für unsere geistige Integrität. Denken Sie an die Geschichte von Kasper Hauser.
Die Gefahr fehlender Diversität im Erbgut
Biodiversität ist aber auch hinter den Kulissen essenziell. Zum Beispiel auf der Ebene des Erbguts, der Genetik also. Zu wenig genetische Diversität ist in der Tat ein Problem. Die Folgen kennen Sie aus dem Schulbuch des Biologie-Unterrichts: Inzucht.
Wenn die Erbinformation in einer Population von Lebewesen zu monoton wird, hat dies meist schwerwiegende, teilweise todbringende Erkrankungen zur Folge. Die nicht sichtbare genetische Variabilität wirkt sich aber auch im gesamten Ökosystem aus. Die Individuen einer Art teilen sich einen Pool an Informationsbausteinen, die Gene, den sie an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Dieser Pool liefert die Grundlage für Anpassungen. Auch diese unsichtbare Biodiversität gilt es zu erhalten.
Genetische Klone sind nicht nachhaltig, weshalb Sex zum Austausch von genetischer Information so „erfolgreich“ ist. Dieser Austausch ist mit einer Steigerung der genetischen Vielfalt verbunden. So gibt es Gene, die zwar für die Ausprägung eines einzelnen Merkmals verantwortlich sind, aber in tausenden Varianten im Genpool der Menschen vorhanden sind – wobei jedes einzelne Individuum nur zwei Varianten tragen kann, die jeweils von der Mutter und dem Vater ererbt wurden: „Vom Vater hab' ich die Statur, des Lebens ernstes Führen. Vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu fabulieren“, erkannte schon Goethe.
Verzerrter Blick der Wissenschaft
Zuwenig genetische Diversität existiert auch auf einer ganz anderen Ebene, nämlich in Datenbanken mit Erbgut-Informationen über den Menschen. Hier sind Europäer und Asiaten überrepräsentiert, was zu einem verzerrten Blick auf den menschlichen Genpool führt. Selbst von uns selbst haben wir somit kein vollständiges Bild der vorhandenen Biodiversität.
Mit dem jährlichen Tag der Biodiversität gedenken wir des am 22. Mai 1992 in Nairobi formulierten Übereinkommens der Vereinten Nationen zum Schutz der biologischen Vielfalt. Und? Im Mai 2019 hat die IPBES-Organisation der Vereinten Nationen (IPBES = Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) einen Bericht veröffentlicht, der sich aus rund 15.000 wissenschaftlichen Studien speist und versucht die Frage zu beantworten, wie und warum sich biologische Vielfalt in den vergangenen 50 Jahren verändert hat.
Dieser Bericht kommt zu dem deutlichen Schluss, dass vor allem die durch den Menschen veränderte Landnutzung zu einem deutlichen Rückgang der Biodiversität geführt hat. Die Rate des weltweiten Artensterbens ist rund zehn- bis einhundertmal höher als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre. Rund eine Million Arten ist aktuell vom Aussterben bedroht.
Der Rückgang der biologischen Vielfalt ist in das öffentliche Bewusstsein gerückt, ein erster Schritt ist getan. Aber ohne eine grundlegende Veränderung des Handelns eines jeden Erdenbürgers und der Gesellschaft als Ganzes werden wir die globalen Herausforderungen Klimawandel und Biodiversitätserhalt nicht begegnen können.
Literatur:
EO Wilson (Hrsg.): Ende der biologischen Vielfalt? Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 1992.
CW Clark: Profit Maximization and the Extinction of Animal Species. J. Pol. Econ. 81:950-961, 1973.