17. Oktober 1905: Als der Beamte der Dependance der Deutschen Reichspost in Mittweida die aufgegebenen Sendungen des Tages stempelt, hat eine der Postkarten bereits einen deutlich längeren Weg hinter sich als die anderen mit Motiven vom Technikum, den Schwanenteichanlagen oder der Zschopau. Und sie hat einen noch längeren Weg vor sich, einen Weg bis ins Jahr 2021.
Schon beim kurzen Betrachten erscheint die Karte besonders. Ein junger Mann ist darauf zu sehen. Er trägt helle Kleidung. Und er nimmt eine ungewöhnliche Haltung ein: Er hockt. Der rechte Fuß berührt nur mit den Zehen den Boden, der linke steht zwanzig Zentimeter vor dem rechten auf Zehen und Ballen. Die Hände sichern parallel zueinander auf Höhe der Knie den Balanceakt durch Kontakt mit dem hellen, mit Tuch bedeckten Boden. Obwohl sein fokussierter Blick weit in die Ferne reicht, stimmt etwas nicht. Der Körper wirkt entspannt. Während die Gliedmaßen die Bereitschaft zum schnellen Sprung auf Kommando symbolisieren, ist der Körper des Jünglings in Trikotage ruhig.
17. Februar 2021: „Allein die Fotografie ist ein ungewöhnliches Zeitzeugnis. Sie zeigt einen jungen Mann in Sportkleidung. Nicht wie damals üblich einen älter wirkenden bärtigen Mann oder einen förmlich ausstaffierten Herren mit Hut und dunklem Anzug“, erklärt Carolin Zeller, die stellvertretende Leiterin des Hochschularchivs Mittweida. „Es ist Vincent Duncker, der erste Spitzensportler des damaligen Technikum Mittweida.“ In Südafrika geboren, war er infolge des Burenkrieges mit seiner deutschstämmigen Familie nach Dresden gekommen, erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft und kam im September 1903 gemeinsam mit seinem Bruder Edgar nach Mittweida, um als Volontär in den mit dem Technikum verbundenen Lehrfabrikwerkstätten die für das Ingenieurstudium erforderliche einjährige Praxis zu absolvieren. „Ein Jahr später nahmen beide Brüder das Studium der Elektrotechnik auf und traten dem Mittweidaer Ballspiel-Club bei“, sagt Zeller. „Beide spielten für die Fußballmannschaft, wobei ihr Spiel laut zeitgenössischen Quellen einige technische Mängel aufwies. Bei einem Zusammenprall der Brüder in einem Spiel am 10. Dezember 1904 brach sich Vincent Duncker das Schlüsselbein, was einen Dispens der Technikumleitung vom Zeichenunterricht zufolge hatte.“
"Udo sei nicht böse"
12. September 1905: Die Technikumsleitung hatte Duncker abermals vom Unterricht freigestellt, dieses Mal für eine Reise nach Schweden. Sie war ein Erfolg. Beim Internationalen Meeting in Stockholm gelingt es Duncker, gleich zwei Leichtathletik-Rekorde zu brechen: Die 110 Meter Hürden absolviert er in 15,6 Sekunden, 0,2 Sekunden schneller als der bisherige Europarekord und 0,8 Sekunden schneller als die bisherige skandinavische Bestmarke. Er zahlt die Freistellung aber nicht nur mit seinem Sieg über seine Paradestrecke zurück, er bringt auch ein Andenken mit in seine Studienstadt: eine Postkarte, die ihn in Wettkampfkleidung zeigt, produziert in Stockholm.
17. Februar 2021: „Duncker muss diese Karte seinen Kommilitonen mitgebracht haben, die sich wie er dem Mittweidaer Ballspiel-Club angeschlossen hatten“, sagt Zeller. Im Jahr 1896 gegründet, entwickelt sich der studentische Sportverein schnell zu einem der besten Klubs im Königreich Sachsen. Gespielt wurden verschiedene Ballsportarten, darunter Tennis und Hockey. Auch die Leichtathleten um Duncker fanden hier ihre sportliche Heimat.
Die Fußballer maßen sich derweil unter anderem mit Vereinen aus Berlin, Leipzig, Prag und dem FC Barcelona. Welchen Stellenwert der Mittweidaer Ballspiel-Club (MBC) hatte, unterstreicht die Beteiligung seines Vertreters, Udo Steinberg, an der Gründung des Deutschen Fußball-Bunds in Leipzig als Vertreter des MBC. „Ebenjenen Steinberg bedachten die Studenten mit der Postkarte, die Duncker aus Schweden mitgebracht hatte“, sagt Zeller. „Die Studenten, von denen wir mehrere dem MBC zuordnen konnten, verwendeten sie als Grußkarte. Statt dem Autogramm Dunckers finden sich auf der Karte die Unterschriften verschiedener Studenten, teils mit dem Kürzel ihrer Funktion im MBC und teils mit persönlichen Grüßen an Steinberg, die auf regelmäßigen Briefkontakt schließen lassen.“
Udo Steinberg hatte von 1895 bis 1900 am Technikum Mittweida Maschinenbau und Elektrotechnik studiert und sich schon in dieser Zeit als Sportler, Funktionär und Sportjournalist um verschiedene Sportarten verdient gemacht. Anschließend emigrierte er nach Spanien und wirkte in Barcelona, wobei er Inhaber mehrere Ingenieurpatente wurde. Gleichzeitig blieb er dem Fußball treu: Zwischen 1901 und 1910 erzielte er als Stürmer beim FC Barcelona nicht nur 60 Tore in über 65 Spielen für den von seinen Anhängern aufgrund der Trikotfarben Blaugrana (katalanisch: blau-dunkelrot) genannten Verein, er war der erste Spieler, der für die Katalanen Tore gegen Real Madrid schoss. Außerdem war Steinberg Gründungsleiter der ersten Fußballschule des FC Barcelona, weshalb er oftmals als erster Trainer des Klubs betitelt wird, und zwischen 1902 und 1907 Sprecher des Vorstandes.
„Steinberg verlor dabei nie den Kontakt nach Mittweida. Im Gegenteil: Er bemühte sich aktiv, ihn aufrechtzuerhalten“, sagt Zeller. Steinberg fragte mehrmals beim Technikum aktuelles Informationsmaterial zur Ingenieurausbildung an, um damit neue Studenten zu werben. „Dabei hatte er nicht nur das Wohl der jungen Männer im Blick, die die weltweit renommierte Ausbildung genießen sollten. Vielmehr sprach Steinberg immer wieder junge Sportler an, die er als Gewinn für den MBC betrachtete. Und nach Abschluss der Ausbildung in Mittweida nutzte Steinberg sein europaweites Netzwerk, um die jungen Ingenieure zu neuen Vereinen zu vermitteln, wobei er ihnen gleichzeitig beim Berufseinstieg half.“
"Schöne Karte erhalten. Grüsse an Alle senden"
Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Mittweidaer Studenten gerade Udo Steinberg als Adressaten der Postkarte auswählten, als sie in geselliger Runde Zeit miteinander verbrachten. Etwas seltsam mögen dagegen die Namen und Biografien der Unterschreibenden erscheinen. Drei Brasilianer; einer deutscher, zwei italienischer Abstammung. Ein Niederländer, geboren im heutigen Indonesien. Ein US-Amerikaner Schweizerischer Nationalität. Ein Österreicher.
„Die Internationalität des Technikums lässt sich sehr gut an der Karte ablesen“, sagt Zeller. „Dafür verantwortlich war der Technikum-Gründer und -Direktor Carl Georg Weitzel, der einen Marketing-Geniestreich ausführte: Er schickte bereits ab dem Jahr 1885 an Botschaften und Konsulate in aller Welt einen Fragenkatalog, um für das Technikum zu werben, aber auch abzufragen, welche Kenntnisse Techniker und Ingenieure für die Ausübung eines Berufes vor Ort benötigen, welches die höchste Schulbildung war, wie der Stand der Industrie ist, et cetera. Ebenso profitierte das Technikum von den sportlichen Erfolgen seiner Studenten.“
Duncker und Steinberg sowie ihre Verbindung zum Technikum und seinem Mittweidaer Ballspiel-Club stehen exemplarisch für eine Vielzahl von Werten der frühen Ingenieurausbildung in Mittweida. „Auch deshalb ist die nun wieder in Mittweida angekommene Karte so besonders. Sie belegt die Verbindung von zwei Mittweidaer Sportikonen der damaligen Zeit, illustriert die selbstverständliche Internationalität der Studenten und die Verbindung der Absolventen mit ihrer Alma Mater“, sagt Zeller.
Weiterführende Literatur:
- Stascheit, M. et al.: Zum Leben und Wirken von Udo Steinberg. Biographische Dokumentation. Hochschule Mittweida. Erhältlich im HSMWshop.
- Schneider, A.; Wendeborn, T. (Hrsg.): Spitzensport und Studium, Herausforderungen und Lösungsansätze zur Ermöglichung dualer Karriere. Springer Fachmedien Wiesbaden, 2019. Erhältlich über Springerlink.
Unsere Kalenderblätter blicken auf die Geschichte der Hochschule Mittweida. Anhand aktueller Anlässe zeichnen wir bedeutende Meilensteine der Hochschulgeschichte nach.
- Erich Schleichers Idee der praktischen Elektronik-Technologie
- Bernhardt Schmidt, der weltberühmte Astro-Optiker aus Mittweida
- Carl Georg Weitzel: Der Mann mit dem richtigen Konzept
- Das Elektrotechnische Institut: Als die Elektrotechnik nach Mittweida kam
- August Horch: Er baute Autos
- Als Mittweida erstmals Hochschulstadt wurde
- Eine Postkarte als Abbild des Technikums