Der 9. November gilt als deutscher Schicksalstag. Auch im Herbst 2015 ist Deutschland in Bewegung. Die Hochschule Mittweida nahm das Datum zum Anlass zu fragen: Was wird aus Deutschland? Demokratische Republik, sozialistisches Revolutionsregime oder faschistische Diktatur? Das ist die deutsche Frage im 20. Jahrhundert. Antworten auf diese Frage diskutierten gestern Abend die sächsische Wissenschaftsministerin Dr. Eva-Maria Stange und der Berliner Sozialarbeitswissenschaftler Prof. Dr. Dr. h.c. C. Wolfgang Müller. Dazu kamen rund einhundert Studierende, Professoren und Beschäftigte sowie Mittweidaer Bürgerinnen und Bürger in den Lichthof von Haus 1.
Hier im Hauptgebäude der Hochschule am Technikumplatz begrüßte zunächst Rektor Ludwig Hilmer Diskutanten und Gäste mit dem Hinweis auf die wenige Tage alte Auszeichnung dieses Platzes beim Sächsischen Staatspreis für Baukultur. Der Preis würdigte in diesem Jahr "Orte der Begegnung". Am Technikumplatz begegneten sich Stadt und Campus der Hochschule räumlich, einer Hochschule, die vor 150 Jahren aus der Stadt heraus entstanden sei, so Hilmer.
Moderator Professor Christoph Meyer, Historiker an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule, leitete die Diskussion mit einen Überblick über das turbulente Datum 9. November ein: Am Anfang steht der 9. November 1918 - Tag der Abdankung des Kaisers und Tag der Proklamation zweier Republiken: der demokratischen und dann der sozialistischen. Dann kommt der 9. November 1923 - Hitlers kläglich gescheiterter Putsch gegen die Demokratie, fortan verklärt zum "Tag der Bewegung" der Nazis. Ein Tiefpunkt an genau diesem Datum 1938: Reichspogromnacht - Synagogen brennen, jüdische Deutsche werden gejagt, ein Vorbote des Holocaust. Und dann, nach über 40 Jahren deutscher Teilung, der 9. November 1989: Die Mauer fällt, die friedliche Revolution ist unumkehrbar. Den Gang durch die Geschichte begleiteten einige Werke von Benjamin Liepelt, dessen Ausstellung "Meet the New Boss" aktuell im Lichthof zu sehen ist. Meyers Fazit aus dem Rückblick auf das "kurze" 20. Jahrhundert: "Es war nicht allein die deutsche Grenze, die 1989 geöffnet wurde. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es keine nationalen Insellösungen mehr. Wer meint, sich abschotten zu können vor dieser Welt, befindet sich im Irrtum."
Das Menschliche ist entscheidend - Ministerin dankt Hochschulangehörigen für ihr Engagement für Flüchtlinge
Dr. Eva-Maria Stange, Sächsische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, wiederholte zu Beginn der Diskussion ihren Dank an die Hochschule für das Engagement ihrer Studierenden, Mitarbeiter und Professoren für die Flüchtlinge in der Hochschulsporthalle. Sie hatte bereits zuvor am Nachmittag bei ihrer Begegnung mit der Hochschulleitung und den Dekanen der fünf Fakultäten betont, die Flüchtlinge in der Hochschuleinrichtung nicht nur als Last sondern als Bereicherung zu sehen. "Das Menschliche ist jetzt entscheidend."
Vor allem die Daten 1918 und 1989 standen im Mittelpunkt der Diskussion. Beiden revolutionären November-Tagen sei gemeinsam, dass der Weg danach der schwierige ist. Danach brauche es eine Menge Menschen - und nicht nur die, die den Wandel herbeigeführt haben, bekannten übereinstimmend Ministerin Stange und C.W. Müller.
Müller, Jahrgang 1928, erzählte aus den Erfahrungen seiner Chemnitzer Familiengeschichte mit der Weimarer Demokratie. Er habe sich in jungen Jahren eher zu deren Kritikern gerechnet, sei später jedoch zu einer anderen Auffassung gelangt, nachdem er sich mit den Pionierinnen der Arbeiterwohlfahrt wie Marie Juchacz und Martha Schanzenbach beschäftigt hatte: "Nach 1918 fehlten die Demokraten." Die Demokratie, so Müller, war gefährdet durch die naseweise Kritik von Links, der es nicht weit genug ging, auf der einen Seite, und - ungleich gefährlicher - durch den beginnenden Gegenwind von Rechts, der die Demokratie gar nicht wollte.
Die Haut der Demokratie ist dünn
Eva-Maria Stange verglich die innere Anerkennung der Demokratie in Westdeutschland im Zuge der Bewegung von 1968 mit der heutigen Situation in den neuen Bundesländern und folgerte, dass da noch etwas fehlt: "Eine Demokratie kommt nicht über Nacht. Sie geschieht nicht durch die Übertragung einer Verfassung. Wir merken heute, wie dünn die Haut der Demokratie ist." Dabei lehnte die Ministerin eine direkte Gleichsetzung mit den Verbrechen der Nazis ab, stellte jedoch fest: "Aktuell passiert etwas, das erinnert an das, was vor 1938 passiert ist." So schlug sie die Brücke zur heutigen Diskussion um Zuwanderung und fragte: "Wo kommt das her, dass das Fremde so abgelehnt wird? Uns fehlt nach wie vor die Auseinandersetzung mit der Zeit unserer Väter. Diese Arbeit der Aufarbeitung fehlt. Die DDR kann nicht auf Stasi und MFS reduziert werden. Wir müssen besser verstehen, was der Unterschied zur Demokratie ist. Das stärkt die Demokratie und hilft sie zu verteidigen."
Dem pflichtete der heute in Berlin lebende Müller bei. Es gehe um Bildung im umfassenden Sinne, denn: "Uns ist der verantwortungsvolle Blick auf das Ganze verloren gegangen. Wir sind in den vergangenen zwei Jahren kulturell zurückgefallen. Wir müssen zu einem ganzheitlichen Bildungsbegriff zurückkehren: der Bildung des Herzens, des Kopfes, des Verhaltens - besonders gegen Leute, die anderer Meinung sind."
Gegen Ende der Veranstaltung gab es zahlreiche Wortmeldungen aus dem Publikum. Einige Redner kritisierten scharf den Zustand der Demokratie, meinten, die Politiker von heute würden sich lediglich nach "Lobbyisten" richten. Bei aller berechtigten Kritik, entgegnete Eva-Maria Stange, lasse sie sich nicht als "die Politik" pauschal aburteilen. Vielmehr sei "die Politik" kein abgeschotteter Bereich. Es sei Sache aller, sich an ihr zu beteiligen. Zum Abschluss warnte Christoph Meyer davor, den gleichen Fehler zu machen wie nach dem 9. November 1918: "Die real existierende Demokratie ist keine perfekte Demokratie. Aber so kritikwürdig die Zustände auch sind - wer die Demokratie anzündet, bekommt nichts Besseres, im Gegenteil, das kann in die Katastrophe führen." Es geht darum, diese Demokratie zu gestalten und zu verbessern, so das Fazit einer rundum gelungenen Diskussionsveranstaltung auf der Höhe der Zeit.
Blick des Künstlers auf die Vergangenheitsbewältigung
Im Anschluss an die Diskussion führte Benjamin Liepelt durch seine Ausstellung "Meet the New Boss" die im Haus 1 derzeit zu sehen ist. Das Datum 9. November und die Ausstellung trafen sich: Geboren 1958 in Bonn lebte Liepelt viele Jahre in New York, wurde dort Zeuge von "9-11". Die Bewältigung der Vergangenheit ist das Thema des heute in Südfrankreich lebenden Künstlers. Er bedient sich aus der Geschichte, zitiert, kombiniert unterschiedliche Materialien, verfremdet, und fordert die Betrachter zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart.