Stefan Brunnhuber, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Diakonie Kliniken Zschadraß und Inhaber der neuen Stiftungsprofessur für Nachhaltigkeit, Sozialmedizin, Psychosomatik und Komplementärmedizin an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Mittweida nahm in der 13. Veranstaltung der Ringvorlesung abermals die Nachhaltigkeit als den utopischen Faden dieser Reihe auf. Diesmal stand aber eine andere Facette der Frage nach einem besseren Leben im Fokus: der Mensch, das denkende und fühlende Subjekt.
Die bisherigen wissenschaftlichen, politischen wie öffentlichen Diskussionen über den Klimawandel, über Nachhaltigkeitsziele oder Grenzen des Wachstum seien ohne einen ausreichenden Blick auf die psychologische Seite der notwendigen Transformation geführt worden, so Stefan Brunnhuber in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für einen stärkere Einbezug der Life-Sciences in die Debatte. So nennt er sein Programm kurz „Psychologie der Transformation“. Ehe er dies genauer skizzierte, rief er zunächst mit beeindruckenden Zahlen belegt die Notwendigkeit der im September 2015 in New York verabschiedeten 17 UN-Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 in Erinnerung.
Ihre Notwendigkeit führt vor Augen, was mit der momentan reüssierenden Epochendiagnose des „Anthropozän“ (wörtlich: das menschlich gemachte Neue) gemeint ist. Sie wurde im Jahr 2000 vom niederländischen Chemiker und Atmosphärenforscher Paul Crutzen eingführt und soll den Zeitabschnitt der ca. letzten 60 Jahre in der Erdgeschichte umfassen, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Das sogenannte „Zwei-Grad-Ziel“ des Weltklimarates (IPCC – Intergovernmental panel on climate change) markiert einen kritischen Wendpunkt über die wahrscheinlichen Folgen des Klimawandels. Es beschreibt den Vorsatz, die globale Erwärmung auf zwei Grad Celsius gegenüber dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung zu begrenzen. Jenseits dessen drohe das Klima in einen subchaotischen und nicht mehr vorhersagbaren Zustand mit unabsehbaren Folgen zu „kippen“.
Das blinde Weiter-So
Das bedeutet auch, dass die neun planetarischen Grenzen (Leitplanken) für die Menschheit nicht überschritten werden dürfen, 2016 aber bereits drei davon überschritten sind - Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Landnutzung. Dieses Konzept wurde von einem 28-köpfigen Wissenschaftlerteam unter Leitung von Johan Rockström (vom Stockholmer Resilience Centre) entwickelt. Ein Weiter-So würde etwa bedeuten, dass wir in den nächsten Jahren über 42 Mega-Citys bräuchten, von den 13 noch gar nicht gebaut sind. Aber alle bisherigen Versuche hätten eher paradoxe Effekte wie den Rebound-Effekt produziert. Das heißt, Ressourcen schonende Technologien hätten zur faktischen Steigerung des Ressourcenverbrauchs geführt – weil sich im Schlepptau das Verhalten der Menschen änderte und die positiven Effekte wieder neutralisierte.
Brunnhuber macht hier ein „Life-Science-Gap“ aus, weil die Rechnungen aktuell ohne den Menschen bzw. das Wissen über ihn gemacht werden. Um die globale Krise zu lösen, setze zum Beispiel die Ingenieurwissenschaft eben auf verbesserte Technologien, einige Vertreter der Wirtschaftswissenschaft auf mehr Wachstum und Umverteilung oder auf ökologischen Landbau, Bevölkerungspolitiker auf die steuernde Kraft etwa von Bildungspolitik etc.
Selbstschädigung erträglich gedeutet
Was wir bräuchten, so Brunnhuber, ist eine 50%ige Reduktion des CO2-Ausstoßes. Darin ist er sich mit anderen Befürwortern einer Postwachstumsgesellschaft einig. Nur, dass er hier die Hindernisse dazu vor allem in der kognitiven und emotionalen Grundausstattung des Gattungswesens Mensch sieht. Der scheint sich vor allem selbst im Weg zu stehen, wenn es darum geht, das zu tun und zu befolgen oder zu lassen, was er eigentlich besser weiß. Er sei das größte Risiko, dass das Anthropozän keine gute Geschichte sondern eine Katastrophe wird. So beschreibt Brunnhuber eine Reihe bekannter psychologischer Phänomene, die den Menschen eher als irrational agierendes Wesen charakterisieren. So lassen sich Menschen durch Fakten wenig beeindrucken, wenn ihnen ihre kognitiven Frames (Denkrahmen) deren Brisanz umdeutet und neutralisiert. Mechanismen der Reduktion „kognitiver Dissonanzen“ machen ihm die eigenen Selbstschädigungen immer wieder erträglich.
Die anschließende Debatte war angeregt und von freundlicher Heftigkeit geprägt – sie drehte sich um die Frage, wie denn dann dieser mit einer gewissen anthropologisch bedingten Blindheit geschlagene Mensch aus seinem selbstverschuldeten Irrgarten heraus finden soll – wenn nicht durch sich selbst.
Vorlesung in dieser Woche: "Automatisches Fahren im öffentlichen Raum und seine Konsequenzen"
Die Utopie, um die es in dieser Woche gehen wird, ist schon greifbar - und vielleicht auch in Mittweida bald erfahrbar: Technisch ist die Entwicklung fahrerloser Fahrzeuge für die Straße weit fortgeschritten. Spannende neue Möglichkeiten für die Mobilität tun sich auf, die auch Veränderungen der klassischen Strukturen von Individualverkehr und ÖPNV zur Folge haben. Die Hochschulstadt Mittweida strebt an, Testfeld für die Umsetzung automatischen Fahrens im kleinstädtischen und ländlichen Raum zu werden. Professor Christian Schulz von der Fakultät Ingenieurwissenschaften der Hochschule Mittweida ist wissenschaftlicher „Motor“ dieses Projekts, wird die Chancen vorstellen und mit den Vorlesungsbesuchern die Konsequenzen diskutieren.
Diese nächste öffentliche Vorlesung: "Automatisches Fahren im öffentlichen Raum und seine Konsequenzen" findet am Mittwoch, dem 29. Juni, um 18:15 Uhr im Hörsaal 39-041 (Peter Schütt Hörsaal) im Zentrum für Medien und Soziale Arbeit (Bahnhofstraße 15) statt. An der linken Gebäudeseite ist ein barrierefreier Zugang.
Wer nicht im Hörsaal dabei sein kann, hat die Möglichkeit unter www.hs-mittweida.de dem Livestream zur Vorlesung in der Rubrik "HSMW-Live" zu folgen.
Alle informationen und Rückbliche zur Ringvorlesung an der Hochschule Mittweida hier