Herr Professor Meyer, die aktuelle Lage in Deutschland, das öffentliche Erstarken des Populismus, wurde in den letzten Jahren wiederholt mit „Weimarer Verhältnissen“ in Verbindung gebracht. Beobachten Sie einen ähnlichen kulturellen Wandel in der heutigen Gesellschaft wie in der Zwischenkriegszeit?
Ja und nein. Geschichte wiederholt sich nicht, aber natürlich gibt es Brüche und Kontinuitäten. Konstant zum Beispiel ist der kulturelle und gesellschaftliche Wandel, die beschleunigte Veränderung der Lebensumstände und Lebensumfelder der Menschen. Das sorgt – früher wie heute – für eine starke Verunsicherung, und die Unübersichtlichkeit treibt stark vereinfachende politische Verführer nach oben. Doch zum Beispiel die totale Meinungskontrolle der Nazis wäre heute, in Zeiten von offenen Netzen, Twitter und Instagram, einfach unzeitgemäß, weil nicht mehr machbar. Allerdings sehe ich durchaus die Gefahr, dass menschenverachtende Politiker sich auch unter den Bedingungen einer offenen Massenkommunikationsgesellschaft durchsetzen können. Anzeichen dafür gibt es zum Beispiel in den USA, siehe Präsident Trump. Wie das in Deutschland funktionieren könnte, sehe ich aber momentan nicht. Pegida hat sich selbst marginalisiert, und die AfD wird sich entweder den übrigen Parteien anpassen oder in aussichtsloser Opposition verhungern.
Die politische Lage in Sachsen wurde nach der Bundestagswahl 2017 bundesweit verstärkt beobachtet. Allgemein scheint es nach fast 30 Jahren deutscher Einheit immer noch Unterschiede zwischen der „alten Bundesrepublik“ und den neueren Bundesländern in Bezug auf das Politikverständnis der Bevölkerung zu geben. Sollten diese Unterschiede überwunden werden oder ist eine „ostdeutsche Demokratiekultur“ sogar vorteilhaft?
Natürlich gibt es Unterschiede. Aber von einer separaten Ostkultur halte ich nichts. Nicht nur die DDR, sondern auch die „alte Bundesrepublik“ gibt es seit dem 3. Oktober 1990 nicht mehr. Natürlich gibt es in der heutigen Bundesrepublik unterschiedliche Erfahrungen, und diese gestalten eine gesamtdeutsche politische Kultur, ob bewusst oder unbewusst. Statt neue Differenzen zu konstruieren, kommt es darauf an, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu leben, offen und selbstbewusst, von allen in einer demokratischen Gesellschaft, egal woher sie kommen.
Fernab von der öffentlichen Aufmerksamkeit haben sich in Sachsen viele Willkommensinitiativen gebildet, die Integration vor Ort fördern. Sind sie außergewöhnliche Leuchtturmprojekte oder spiegeln sie Ihrer Meinung nach die „wahre“ Kultur wider, die öffentlich weniger Beachtung gefunden hat?
Es gibt keine „wahre Kultur“, die nur eine Seite des Diskurses wiedergibt. Wer heute „Wir sind das Volk“ ruft, behauptet ja selbst im Besitz der Wahrheit oder des Rechtes oder der Kultur zu sein. Das ist aber nicht so. Die andere Seite kann dies allerdings auch nicht von sich behaupten, wenn denn Kultur etwas ist, das nie nur ein Teil der Gesellschaft besitzt, sondern das von allen gemeinsam oder in seiner Summe gestaltet, gelebt wird. Was die öffentliche Aufmerksamkeit betrifft, so ist es leider so, dass der laute Aufschrei, der Tabubruch etwa durch „Absaufen“-Rufe auf Pegida-Kundgebungen mehr beachtet wird als die leisen Töne, das stille Wirken für Mitmenschlichkeit von vielen Menschen in unserem Land.
Wo liegt denn „Die Grenze der Toleranz“?
Das ist nicht so klar zu bestimmen wie beispielsweise die Quadratwurzel aus vier. Grundsätzlich gibt es keine Grenze für Toleranz – außer der einen Frage, die Bedingung für die Toleranz ist: Bewegen wir uns im selben Raum, wenn es um die Anerkennung der gleichen Rechte und der gleichen Würde eines jeden Menschen geht? Gegenüber der absoluten Intoleranz kann es jedenfalls keine Toleranz geben. In dieser gesellschaftlichen Verantwortung steht übrigens auch die Wissenschaft selbst.
Zur Fachtagung: Was macht „Die Grenzen der Toleranz“ aus wissenschaftlicher Sicht relevant?
Dies ist nicht in erster Linie eine wissenschaftliche Fachtagung. Sondern eine Tagung, auf der Leute vom Fach, also aus demokratischen zivilgesellschaftlichen Initiativen sich untereinander und mit Menschen, die wissenschaftlichen Sachverstand einbringen, beraten und Strategien entwickeln. Ganz im Sinne einer angewandten Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung.
Mit Prof. Dr. Christoph Kopke von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, Dr. Robert Feustel von der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Hannah Eitel von der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen werden drei externe Referenten die Fachtagung mitgestalten. Was zeichnet diese aus und was darf der Besucher der Veranstaltung folglich an Input erwarten?
Professor Kopke ist Politikwissenschaftler, hat Erfahrungen mit der Arbeit in Gedenkstätten und ist ein ausgewiesener Experte in der Forschung zu Rechtsextremismus und Antisemitismus. Hannah Eitel kommt aus der politischen Bildungsarbeit und hat zu Pegida geforscht – und Robert Feustel ist Soziologe und Experte für Populismus. Wir erwarten also spannende und fachkundige Beiträge zum Thema der Tagung.
Die Veranstaltung richtet sich insbesondere an Initiativen und Organisationen sowie an Einzelpersonen, die sich in Sachsen haupt- und ehrenamtlich für ein weltoffenes Zusammenleben einsetzen. Können auch interessierte Bürger und Bürgerinnen ohne fachlichen Hintergrund teilnehmen?
Natürlich richtet die Veranstaltung sich in erster Linie an Engagierte. Aber alle, die sich ernsthaft und auf demokratischer Grundlage mit dem Thema beschäftigen und sich weiterbilden wollen, können teilnehmen. Wir bitten allerdings um vorherige Anmeldung.
Die Veranstaltung und weitere Informationen zur Anmeldung finden Sie hier.