Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie sollen unsere Städte aussehen? Wie plant man Lebensräume, die gleichzeitig ökologisch, ökonomisch und sozial zukunftsfähig sind? Am Beispiel nachhaltige Stadt lernen Studentinnen und Studenten der Hochschule Mittweida gemeinsam mit Kommilitoninnen und Kommilitonen der TU Chemnitz, Ideen für die nachhaltige Gestaltung von Stadträumen zu entwickeln. Dabei arbeiten sie mit den realen Entscheidern in den Kommunen zusammen, präsentieren ihre Ideen und bewerten sie im Blick auf die Nachhaltigkeit.
Wesentlich neben dem Praxisbezug ist aber auch die Art und Weise, wie die Ideen entwickelt werden: Die beiden Hochschulen arbeiten dazu seit dem Sommersemester 2019 im kooperativen Lehr-Lernprojekt „Nachtigall“ zusammen: „Nachtigall“ steht für „Nachhaltigkeit agil lenken“. Initiiert haben es Prof. Dr. Anika Dittmar, Professorin für Nachhaltiges Bauen und Betreiben an der Hochschule Mittweida, und ihre Kollegin Prof. Dr. Marlen Arnold, Professorin für betriebliche Umweltökonomie und Nachhaltigkeit an der TU Chemnitz.
Lernen sollen die Studentinnen und Studenten vor allem, wie man komplexe Nachhaltigkeitsprobleme im Kontext „Stadtraum“ kreativ lösen kann ohne dabei das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. Neue, ungewöhnliche Denkrichtungen einzuschlagen, ist dabei ausdrücklich erwünscht. Das führt oft zu erfrischend „anderen“ Lösungen, die bereits während der Ausarbeitung für viel Begeisterung sorgen.
Praxisfall Stadtraum Chemnitz
Im vergangenen Sommersemester gab es die erste pilothafte Umsetzung von „Nachtigall“ mit den neun Studentinnen und Studenten aus Mittweida und Chemnitz.
Ein solches Projekt durchläuft typischerweise drei Phasen: vom Input über die Entwicklung bis zur Bewertung.
Phase1/Input: Neben dem Fachwissen darüber, was eine nachhaltige Stadt ausmacht, erlernen und erprobten die Studentinnen und Studenten eine Methode für agiles Projektmanagement namens „SCRUM“. Das ist ein Konzept aus Kreativtechniken, in dem sehr frei und schöpferisch agiert werden kann und zugleich strenge Regeln herrschen, die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern viel Disziplin abfordern. Eine Regel lautet: Jeder Fehler ist eine Chance. Gepaart mit einigen weiteren Regeln entstehen so äußerst schnell völlig neue Ideen.
Phase 2/Entwicklung: Nun ging es an die Entwicklung der Idee gemeinsam mit den Partnern in der Praxis. Dabei kam ein zweiter wichtiger Aspekt von SCRUM zum Tragen: die starke Ausrichtung am Kunden bzw. Nutzer der Idee. Die Methode verlangt eine permanente Spiegelung des Entwicklungsstandes am potenziellen Nutzer.
Auf diese „agile“ Weise erhielt das Team wertvolles Feedback. Die Kunden der Studierenden waren z.B. Stadtratsmitglieder der Städte Chemnitz und Burgstädt oder die Gründer von „Marx Mobil“, einem Projekt für nachhaltige Mobilität im Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg. Somit werden auch ungewöhnliche Lösungsvorschläge mit der realen Praxis konfrontiert – und das bereits während der Projektentwicklung und nicht erst am Projektende.
„Das Feedback unseres Praxispartners hat und sehr weitergeholfen. Er hat nicht nur einen anderen Blickwinkel uns aufgezeigt, sondern konnte uns mit wichtigen Zusatzinformationen weiterhelfen, um das Projekt realisieren zu können“, sagt Lisa Dönitz, studentische Mitarbeiterin von Prof. Anika Dittmar.
„Dieser Perspektivenwechsel ist ein schöner Nebeneffekt von SCRUM“, so Lisa Dönitz weiter: „Durch das Projekt wurde mir nochmal bewusst wie wichtig es ist eigenständig, fokussiert und zeitorientiert zu arbeiten. Außerdem wurde von mir Selbstorganisation und Kreativität abverlangt. Man lernt zusätzlich Probleme mit einer anderen Sichtweise zu bearbeiten und, dass Fehler zu machen, auch etwas Positives sein kann.“
Eine weitere Besonderheit: Ein solches agiles Team findet sich über das Interesse am gleichen Thema und organisiert sich in der Umsetzungsphase selbst. Mittweidaer Studentinnen und Studenten können im Bachelorstudiengang „Immobilienmanagement und Facilities Management“ und in der gleichnamigen Vertiefung im Masterstudiengang „Industrial Management“ unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Dazu kommt die Kooperation mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen aus dem Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Chemnitz.
So erfolgte die Arbeit in interdisziplinären Teams, was organisatorische Herausforderungen aber auch viel Wertschätzung für andere Disziplinen mit sich brachte. Die Methode erlaubt die simultane Arbeit am selben Werkstück, das in „Inkremente“ aufgebrochen und später wieder zusammengesetzt wird. Auf diese Weise kann jeder seine individuellen Stärken einbringen.
Das bekräftigt auch Lisa Dönitz: „Die vorgegebenen Zeiteinheiten sowie das fokussierte Arbeiten an einem einzelnen Baustein war für mich eine große Umstellung. Da man gewohnt ist, stets die Gesamtlösung im Blick zu haben und an vielen Themen gleichzeitig zu arbeiten. Wir haben als Gruppe aber bald gemerkt, dass wir durch die neue Methode viel schneller sind.“
Phase 3/Bewertung: Die Projektergebnisse enthalten vielversprechende Ansätze und Konzepte für nachhaltigere Städte. Ein Team hat ein neues Stadtentwicklungskonzept für den „Brühl“ in Chemnitz erarbeitet. Vertreter des „Kunden“ hier war Thomas Scherzberg, Vorsitzender des lokalen „Agenda 21“-Beirats. Die Ergebnisse werden im November dem Agenda-Beirat, der durch den Stadtrat Chemnitz berufen wird, vorgestellt. Andere Teams schlugen ungewöhnliche Kunstaktionen vor, um für mehr Nachhaltigkeit zu sensibilisieren, wie zum Beispiel eine sechs Meter hohe Skulptur aus Plastikflaschen aufzustellen, die aus genau 37,4 Kilogramm PET-Flaschen besteht. So viel Kunststoffmüll produziert jeder Deutsche im Durchschnitt pro Jahr.
Didaktisches Pilotprojekt erfolgreich
Das didaktische Pilotprojekt „Nachtigall“ läuft noch ein weiteres Semester im Ideenraum „nachhaltige Stadt“ und wird aufgrund des positiven Feedbacks der Studentinnen und Studenten und der guten Beurteilung durch die Professorinnen in den Studienablauf integriert. So profitieren künftig alle Studentinnen und Studenten in Mittweida von dem neuen didaktischen Konzept. Prof. Anika Dittmar ist begeistert vom Verlauf des Pilotprojekts: „Nachtigall ist erfolgreich angelaufen, und ich freue mich über den Rückenwind – auch aus meiner Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen. So wird aus dem einstigen Experiment ein regulärer Bestandteil der Lehre in Mittweida. Durch die grundsätzliche Adaptierbarkeit des didaktischen Konzepts kann es übrigens auch in und mit anderen Fachbereichen Anwendung finden.“
Das Lehr-/ Lernprojekt wird gefördert durch:
Autoren: Prof. Dr. Anika Dittmar, Lisa Dönitz, Helmut Hammer
Fotos: Helmut Hammer (1, 3, 7, 8), Lisa Dönitz (4-6); Grafik: Fakultät (2)