Ein Raum voller menschlicher Skelett-Teile, sorgfältig ausgelegt auf Tischen. Darüber beugen sich Studentinnen und Studenten der Forensik, erfassen, fotografieren, sortieren, ordnen neu. Zehn Tage zwischen Ende April und Mitte Mai dieses Jahres war das Studio B der Hochschule für die fünf zukünftigen Forensiker und Forensikerinnen mit ihren Dozenten Ort intensiver „Knochenarbeit“ an den anderthalb Jahrtausende alten Funden.
Hauptaufgabe der Forensik ist es, Spuren zu analysieren, sie gerichtsfest auszuwerten und zu präsentieren. Das gilt auch für die Anthropologie als Teildisziplin der Forensik: Sie beschäftigt sich mit Knochen- und Skelettfunden, die im Zusammenhang eines Verbrechens stehen.
Chiara Hartmann studiert im 5. Semester „Allgemeine und Digitale Forensik“ an der Hochschule Mittweida: „Für mich und meine Kommilitonen brachte die Arbeit mit den Knochenfunden einen deutlichen Zugewinn an Wissen über die menschliche Anatomie aber auch zahlreiche Erfahrungen im Projektmanagement. Dazu kam das Erlebnis, gemeinsam im Team Erfolg bei der Zuordnung der Skelett-Teile zu haben.“
Knochen als Zeugen eines Lebens
An den Knochen haben die Studierenden keine invasiven Untersuchungen vorgenommen. Sie haben die Untersuchung morphologisch, das heißt mit bloßem Augedurchgeführt. Aber wenn man weiß wie, ist es möglich, eine Vielzahl von Dingen herauszulesen, von denen man vorher kaum geglaubt hätte, dass das Skelett so viel offenlegen könnte – vom Alter, Geschlecht und der Körpergröße bis zu Spuren von Krankheiten, Aktivitäten und Verletzungen. Diese Informationen können alle sehr aufregend sein, weil man dabei teilweise unglaubliche Geschichten wiederaufleben lassen kann. Um die Spuren zu verstehen, muss man von den Prozessen, Abläufen und Phänomenen rund um den menschlichen Körper wissen,wie sich beispielsweise das Skelett von der Geburt bis zum Erwachsenen entwickelt. Durch die Untersuchung des Skeletts lässt sich herausfinden, wer die Menschen damals waren, wie sie gelebt haben oder auch wie sie gestorben sind. So wird ein Einblick in die Vergangenheit möglich, über die so nie in einem Geschichtsbuch geschrieben wurde.
Fragen, mit denen sich die Anthropologie innerhalb der Forensik beschäftigt sind beispielsweise: Handelt es sich um einen menschlichen oder tierischen Knochen? Wer verbirgt sich hinter diesem Knochen? Wie lange liegt dieser schon am Fundort? Wie ist das Individuum ums Leben gekommen? Finden sich Verletzungspuren?
Die Anthropologie ist ein Wahlmodul im Studiengang „Allgemeine und Digitale Forensik“, der seinen Schwerpunkt in der Informatik hat. Für das anwendungsorientierte Studium gilt dabei grundsätzlich: Theoretische Grundlagen und methodisches korrektes Arbeiten werden bereits im Studium in der Praxis angewendet. Hier ist es nicht die Analyse von digitalen Spuren eines Verbrechens sondern die Auswertung von „biologischem Material“.
In der Fachgruppe Forensik von Prof. Dirk Labudde hatten die Studentinnen und Studenten während eines mehrwöchigen Praktikums die Möglichkeit, maßgeblich dabei mitzuwirken, ein Konzept zur Aufarbeitung von Knochenfunden zu entwickeln und dieses dann auf ihre Praxistauglichkeit zu testen. Der Schwerpunkt lag auf der Knochenanalyse und der Aufnahme bzw. Dokumentation von Knochenmaterial. Das Verständnis über die Anatomie des Menschen, die Biologie des Knochens und weitere Grundlagen eigneten sich die Studierenden zu Beginn des Praktikums an.
Studentische Arbeit bringt Ordnung in ein Gräberfeld
Die Knochensammlung ist eine Leihgabe der Prähistorischen Sammlung Köthen (nördlich von Halle (Saale) in Sachsen-Anhalt) und befindet sich seit Mai 2017 zur Begutachtung an der Hochschule Mittweida. Es handelt sich dabei um ein Gräberfeld aus Görzig, einem Ort nahe Köthen. Die Skelette sind mehr als anderthalbtausend Jahre alt und werden der jüngeren römischen Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit (180 bis 375) zugeschrieben. Sie sind nach insgesamt 73 Inventarnummern geordnet. Eine solche Zuordnung kann aber verwirrend sein, denn hinter einer Inventarnummer kann sich mehr als ein Skelett verbergen, und dann ist oftmals nicht klar, welche Knochen zu welchem Individuum gehören. Ein großer Teil des Gräberfeldes wurde durch Zufall bei Feldarbeiten gefunden und durch diese zum Teil beschädigt. Das sowie die oft lückenhafte Dokumentation der Sammlung und ihrer Nutzungsgeschichte machen es schwierig, klare Aussagen über die Menschen zu treffen, die damals in Görzig bestattet wurden. Die Aufgabe war also auch, die Originaldokumentationen mit dem Ausgangszustand abzugleichen und die Dokumentation durch eine Inventarisierung aller Inventarnummern aufzuarbeiten.
Das Ziel war es, einerseits Unklarheiten und Fehler in der Zuordnung der Skelette aufzuklären, und andererseits die Merkmale der Sammlung zu identifizieren: Beispielweise wie viele männliche und wie viele weibliche Individuen es gibt, wie viele Kinderskelette dabei sind und welche besonderen Spuren zu finden sind, die darauf hinweisen, wie die Person gelebt hat, aber auch, was nach dem Tod mit dem Leichnam passiert ist. Besonderes Augenmerk galt zudem Skelet-Tteilen, deren Auffälligkeiten geeignet erschienen, Gegenstand einer späteren Untersuchung zu werden - beispielsweise im Rahmen einer Bachelorarbeit.
Im Studio B der Hochschule breiteten die Studierenden und ihre Dozenten die inventarisierten Funde aus. Sie nahmen dazu die aus der Archäologie für die Analyse von gefundener Keramik bekannte Methode des „Scherbengartens“ auf, mit der die flächig ausgelegten Funde besser zusammengefügt werden können. Dreierteams nahmen das Knochenmaterial auf und analysierten es. Ein Digitalisierungsteam fotografierte die Skelette daraufhin.
Zeigten also Inventarnummern Unstimmigkeiten mit der Originaldokumentation, wurden sie in einen großen Bereich des Studios, den „Knochengarten“ gelegt. So war es für die Studierenden möglich, sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen, die Skelette und Skelettelemente miteinander zu vergleichen und nach Möglichkeit richtig zuzuordnen. Die gesamte Sammlung wurde am Ende neu und mit eigenem System verpackt, um das schnelle Identifizieren der einzelnen Knochenelemente auch in Zukunft sicherzustellen und eine erneute problemlose Auslegung zu ermöglichen.
„Das Projekt war ein voller Erfolg“, sagt Marie Heuschkel, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Betreuerin des Projekts: „Die Studierenden haben ihre ambitionierten Ziele erreicht. Sie haben die Skelette grundlegend inventarisiert und hinreichend dokumentiert sowie digitalisiert. Besonders spannend wurde die Arbeit dadurch, dass sich in der Sammlung Individuen verschiedenen Alters und Größe befinden. Ebenfalls beeindruckend waren Auffälligkeiten wie pathologische Veränderungen, anatomische Varianten wie ein zusätzlicher Brustwirbel oder auch Knochenverfärbungen und Verletzungen.“
Die umfangreiche Dokumentation ist Basis für zukünftige Arbeiten mit der Sammlung. Die Ergebnisse des Projekts werden weiter aufgearbeitet, digitalisiert und so später in eine Datenbank aufgenommen.
Zur Nacht der Wissenschaften am 19. Juni 2020 wird die Fachgruppe Forensik (Forensic Science Investigation Lab) in einer Ausstellung die interessantesten Skelette zeigen und über die „Knochenarbeit“ an der Hochschule informieren.
Gut kombiniert: Forensik studieren in Mittweida
Der Mittweidaer Studiengang „Allgemeine und Digitale Forensik“ kombiniert deutschlandweit einmalig alle Felder der Informatik im Umfeld der Forensik – er befasst sich sowohl mit Cybercrime als auch mit Daten, die bei „klassischen“ Verbrechen entstehen. Die Absolventinnen und Absolventen beherrschen die Methoden und Verfahren, diese Daten für eine mögliche Strafverfolgung zu erheben, zu sichern und auszuwerten und die notwendigen Informationen abzuleiten. Dazu vermittelt der Studiengang umfangreiche Informatikkenntnisse.
Text: Katharina Schmidt,Chiara Hartmann, Helmut Hammer
Fotos: Fachgruppe Forensik