Dr. Ingrid von Reyher (1908–2004) war 1947 die erste Frau, die an der damaligen Ingenieurschule unterrichtete, 1998 wurde sie erste Ehrenbürgerin der Hochschulstadt Mittweida; seit 2012 vergibt die Hochschule den Ingrid-von-Reyher-Preis für Chancengleichheit – und seit vergangener Woche trägt ein Hochschulgebäude ihren Namen: Ingrid-von-Reyher-Villa.
In einem kleinen Festakt am 6. November enthüllten Rektor Ludwig Hilmer, Kanzlerin Sylvia Bäßler, und Gleichstellungsbeauftragte Rika Fleck zusammen mit Oberbürgermeister Ralf Schreiber das Schild am Haus 19 der Hochschule an der Leisniger Str. 9. Die 1890 erbaute Villa war zuletzt als „Medienvilla“ bekannt, das lokale Hörfunkproramm „99drei Radio Mittweida“ kam bis 2015 von dort, und auch Ingrid von Reyher lebte bis 2002 im ersten Obergeschoss.
Rektor Hilmer, damals Dekan der Fakultät Medien, erinnert sich an die Begegnungen mit der alten Dame in der Medienvilla: „Sie zeigte eine freundliche Bestimmtheit gegenüber den Medienleuten in ihrem Haus, war eine beeindruckende Persönlichkeit und ist für die Hochschule in vielerlei Hinsicht ein Symbol.“
Preis für Chancengleichheit
Ausdruck dieser Bedeutung von Ingrid von Reyher ist auch der nach ihr benannte Preis für Chancengleichheit, den die Hochschule seit 2012 vergibt. Die Verleihung in diesem Jahr war Teil des Termins am 6. November. Der Preis ging zum einen an eine Wissenschaftlerin aus der Fakultät Ingenieurwissenschaften: die Diplom-Informatikerin Dorit Bock; zum anderen an das Projekt „medienMITTWEIDA“, vertreten durch die beiden Studentinnen Annika Braun und Julia Walter aus der Fakultät Medien.
Christine Winkler-Dudczig, neue hauptamtliche Referentin für Gleichstellung an der Hochschule Mittweida, übergab den Preis. In ihrer Laudatio an Dorit Bock betonte sie, dass durch das Format ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit deutlich gezeigt werde, dass an der Hochschule Mittweida Frauen im MINT-Bereich kompetent und erfolgreich ihre Disziplin vertreten. Ganz im Sinne von Ingrid von Reyher stehe sie ihre Frau in einem naturwissenschaftlichen Fachgebiet. Sie sei in der Lehre und Forschung anerkannt, an der Fakultät beliebt und für die in der Forschung kooperierenden Unternehmen eine feste Größe. „Frauen wie sie können somit auch zukünftigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den Weg in die Forschung erleichtern.“
Das Online-Magazin „medienMittweida“ habe, so die Laudatorin, in seinem Selbstverständnis die Chancengleichheit von Frauen und Männern, von Studierenden aller Semester, die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen und die transparente Vergabe von Leitungspositionen formuliert. Aktuell mit einer weiblichen Doppelspitze in der Chefredaktion und einem Frauenanteil von zwei Dritteln in den Leitungspositionen lebe „medienMITWEIDA“ Chancengleichheit strukturell und inhaltlich. Jede und jeder könne sich entsprechend der eigenen Fähigkeiten und Begabungen in die Redaktion einbringen, und in der Berichterstattung kämen auch fehl- und unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppen vor.
Ingrid von Reyher und ihre Heimat Mittweida
Für Christine Winkler-Dudczig ist Ingrid von Reyher auch über ihre fachliche Stellung hinaus ein Vorbild für junge Frauen von heute: „Sie hat sich nicht nur in einer Männerdomäne etabliert, sondern sich in Mittweida eine neue Existenz aufgebaut und Heimat gefunden. Sie kam als eine Fremde hierher und hat sich als ledige Frau über ihr vielfältiges Engagement an der Hochschule und in der Stadt Anerkennung verschafft.“
Am 30. Mai 1908 in Riga geboren, kam Ingrid von Reyher als 37-jähgrige promovierte Chemikerin nach Mittweida, unterrichtete zunächst stundenweise am Gymnasium und an der Ingenieurschule, dann ab 1947 regelmäßig in den Fächern Chemie und Physik, später auch Russisch, Biologie und Werkstoffkunde.
In der Hochschul-Publikation „Frauen und die Hochschule Mittweida. Tradition – Realität – Vision, Erster Teil: Frauen an der Hochschule Mittweida von 2010 heißt es auf Seite. 48f:
„Rückblickend äußert sie sich zu den Vorurteilen der nahezu ausschließlich männlichen Studenten: ‚Ja, am Anfang war es ganz schlimm. Man erzählte mir, daß die Studenten bei meiner ersten Vorlesung fast vom Stuhl gefallen wären, weil sie es nicht für möglich hielten, von einer Frau gelehrt zu werden. Schnell bildeten sich auch zwei Parteien: Die einen meinten, uns, den Herren der Schöpfung, kann eine Frau doch nichts beibringen - die anderen standen hinter mir.‘ Das anfangs schwierige Verhältnis zu den männlichen Studenten änderte sich bald. Viele von ihnen respektierten und achteten sie. Das zeigt sich besonders durch die langjährigen Kontakte der Absolventen zu ihrer Lehrerin in den späteren Jahren.“
Ingrid von Reyher engagierte sich auch neben ihrer Lehr-Tätigkeit. Im Jahr 1993 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz für die jahrelange Beobachtungstätigkeit von Wetterentwicklungen und ihrer Auswirkung auf die Biosphäre. Sie war viele Jahre lang Stadtverordnete in Mittweida und vollzog als Standesbeamtin mindestens 400 Eheschließungen. Im Jahr 1998 verlieh ihr die Stadt als erster Frau das Ehrenbürgerrecht. ln ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung sagte sie: „Heimat ist da, wo man Menschen kennt, mit denen man reden kann, und wo man Freunde hat. Mittweida ist meine Heimat.“
lngrid von Reyher starb am 24. Juni 2004 im Alter von 96 Jahren in einem Freiberger Pflegeheim. Begraben ist sie auf dem neuen Friedhof in Mittweida in einer Grabstätte, deren Pflege in den Händen der Stadt Mittweida für ihre Ehrenbürgerin liegt.
Röthig-Villa, Köhler-Villa, Medienvilla, Ingrid-von-Reyher-Villa
Der Strumpffabrikant Carl Clemens Röthig ließ 1890 die Villa errichten, die er als Wohn-, Geschäfts- und Lagerhaus nutzte. Im Jahre 1957 erwirbt die Familie Johannes Köhler Grundstück und Gebäude. Die damalige Ingenieurhochschule kauft das Anwesen 1984. Auch nach diesem Zeitpunkt erfolgt weiterhin die Nutzung als Wohngebäude. Ingrid von Rehyer wohnte hier, bevor sie nach im Jahr 2002 Freiberg in ein Pflegeheim umzog.
Ab 1995 nutzte die Hochschule zunächst nur das Erdgeschoss und Teile des ersten Obergeschosses für die Fachgruppe Medien. Das lokale Hörfunkprogramm „99drei Radio Mittweida“ wurde bis 2015 aus der „Medienvilla“ gesendet. Das Dekanat der Fakultät Medien war später bis zum Umzug in das neue Zentrum für Medien und Soziale Arbeit im ersten Obergeschoss untergebracht.
Heute beherbergt die Ingrid-von-Reyher-Villa im Erdgeschoss das Institut für Kompetenz, Kommunikation und Sprachen (IKKS). In das erste Obergeschoss zieht im kommenden Jahr das Institut für Wissenstransfer und Digitale Transformation (IWD) der Hochschule ein. Das zweite Obergeschoss wird nach wie vor als Wohnung genutzt.